Aus unerfindlichen Gründen neigt der Mensch in unseren Breiten dazu, sich anläßlich bestimmter Daten zu erinnern. Und dann schreibt er eine Karte zum Geburtstag, wirft Rechnungen und Steuerbescheide weg, steckt anderen Ehrennadeln an oder fühlt sich geehrt, wenn er selbst eine angesteckt kriegt. Ich mache da keine Ausnahme und erinnere mich lebhaft an den einzigen Anlaß, bei dem mir derartiges wiederfahren ist. Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich irgend etwas geleistet hätte, es reichte die Tatsache, dass ich 25 Jahre dem Alpenverein angehörte. Ist schon ein paar Jahre her, aber ich räume das Abzeichen noch heute gelegentlich von hier nach da, wobei ich gestehen muss, dass ich mich anfangs mit der Absicht trug, mir das Ding ans Revers zu heften.
Vor sechzehn Jahren war das, dass ich mit einer größeren Reisetasche als einzigem verfügbaren Besitz am Gmunder Bahnhof aus dem Zug stieg, um hier einern Neubeginn zu wagen, ein Zugereister im Wortsinne also. Damals war es noch ein silbriger Bundesbahnwaggon, aus dem ich da stieg und ich nahm mir im gegenüberliegenden Gasthof ein Zimmer. Der Gasthof, seinerzeit italienisch bewirtschaftet, ist heute keiner mehr, der nachfolgende „Schnäppchenmarkt“ ist auch keiner mehr, der Triebwagen der BOB hat den Bundesbahnwaggon ersetzt, aber ich bin noch da, aus dem Zugereisten ist ein Dagebliebener geworden.
Der See ist auch noch da, er sieht noch immer immer anders aus. Am Ufer rückt die Häuserfront näher und bald wird man in ein Haus gehen müssen, um am See zu sein -oder auf einen Steg, wie er in Tegernsee immer mal wider geplant ist. Kurgäste, schon vor 15 Jahren eine eher rare Spezies, gibt es so gut wie gar nicht mehr, dafür aber jede Menge Biker, ob motorisiert oder mountain. Daneben treten Wellness-Sufer in Erscheinung und Erfinder von Luftworten wie Naturellness u.a., die in der festen Ansicht, mit derlei verbalen Beschwörungsformeln doch noch ein paar zahlende Zeitgeistsurfer in die Kuranstalten zu locken, Tourismusmessen bevölkern.
Es gibt zunehmend die zunehmend bejahrten Kreuzungsverstopfer im Bus oder in der eigenen Blechschachtel -mit Stern oder ohne, aber auf jeden Fall silber-metallic-, die irgendwie ziellos um das Gewässer irren und, auch zunehmend: die Großmannssucht, ablesbar an der Masse der Architektur.
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Wenn man am Riedersteinkircherl steht und herunterschaut, machen die Bauverhältnisse Werteverschiebungen deutlich. Genauer gesagt: die Rottacher Kirche, nehmen wir mal nur diese, wirkt klein und grazil gegenüber der Baumasse der neuen Herberge für besonders gut Betuchte einen halben Blick weiter rechts. Am Wiesseer Ufer sieht es nicht besser aus. Neben einer wuchernden Kur- und Sportklinik ist ein architektonischer Tarnkappen-Versuch zu sehen (‘Seht her, ich bin nicht da!’), darinnen ein Tempel für eine spezielle Art von Glücksrittern, welcher absehbar den zeitweiligen Ruin der Gemeindefinanzen und den endgültigen mancher Besucher bewirken wird; vielleicht verhält es sich auch umgekehrt. Ein Blick nach Kaltenbrunn hinüber zeigt, wie harmonisch sich ein Ensemble in die Landschaft fügen kann. Ein Schande, es fällt richtig auf. Wird ja auch nicht mehr lange so sein.
Eine Abart des bekannten Hofschranzen ist hier häufig anzutreffen: der prominentenfixierte Danebensteher, er tritt auch in der weiblichen Form auf. Mag die Prominenz noch so drittklassig sein, die Ursache der Prominenz noch so zweifelhaft, die Presse wird gerufen, Fotografen lichten grinsende Prominente mit grinsenden Drumherumstehern ab und ein Artikel mit besagtem Bild erscheint in der Zeitung und im Gästeblatt.
Weit ernster ist eine besondere Leidenschaft, die sich im Tal immer dann Bahn bricht, wenn Mensch oder Gruppe eine abweichende Meinung vertritt (und sei die noch so legal, rechtmäßig oder sonstwie anmaßend). Es geht -oftmals geradezu lustvoll von Mandatsträgern verschiedener Art gefördert- eine verbale Menschenhatz los, die, wenn man in den Niederungen der Leserbriefspalten der selbsternannten ‘Heimatzeitung’ liest, den einen oder anderen schon veranlassen kann, sofort einen Ausreiseantrag zu stellen. Die Tegernseer Karnevalisten, die sich um die sendungsbewußte Maria Heiß scharen sind damit nicht gemeint. Ausdrücklich.
Das Tegernseer Tal ist eine der schönsten Landschaften Europas. Das sagen wir mal so, auch wenn die Menschen an seinen Ufern sich alle Mühe geben, daraus einen Ort zu machen, der allen anderen gleicht.
Martin Scheib
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